Der Wandergruppe zweiter Streich: Turiner Hütte

Nach dem langen ersten Tag kommen wir überraschend gut aus dem Schlafsack und sind, was das eigentlich Erstaunliche ist, gut organisiert. Allein an der Bahn denke ich kurzfristig, den Geldbeutel im Bus vergessen haben, finde ihn aber dann doch wie vermutet in der Deckeltasche. Ein typischer „Chris-Moment“.

Dent du Geant

Supercoulioir zieht vorbei

Auffahrt mit der ersten Bahn, Abstieg von der Midi, fast schon Routine. Die Wandergruppe latscht über das Mèr de Glace hinüber zur Pointe Helbronner, rechts zieht das Supercouloir vorbei. Am Wandfuß liegen keine Felsen auf dem Gletscher, nichts deutet darauf hin, dass es hier steinschlaggefährdet sein könnte. Johannes gibt ein strammes Tempo vor, mir bleibt kaum Luft zum Nachdenken. Gut so.

Um etwa 11:00 kurze Diskussion, ob sich der Geant noch ausgeht. Wir probieren es, stapfen weiter und schneller als ich dachte stehen wir am Einstieg des Zustiegs.

Die erste Schnee-/Eisrinne ist etwas ausgeapert und  unangenehm, es folgen Blockgelände und die Frage, Steigeisen oder nicht. Johannes, Lenzi und ich ziehen sie aus, um nach anfänglichen Vorteil doch über steilen Schnee zu zittern – sehr schlau.

Dicke… Taue

Eine kurz Stelle, mit Fixseil entschärft, kostet Lenzi alle Nerven. Er weiß nicht weiter, kommt kaum drüber, ist fix und fertig – mit sich, mit mir, der Welt “der Gesamtaituation”. Zu anstrengend die Latscherei von der Midi hierher, zu gewaltig die Kulisse, zu beeindruckend der gigantische Zahn über uns. Schnell wird klar, dass er eigentlich doch weiter will. Irgendwie legt es ihm den Schalter um, und er ist schlagartig wieder zu 100% motiviert, positiv, zuversichtlich und seine Sicherheit ist ebenfalls wieder da. Und er labert wieder 😉 bestes Zeichen überhaupt.

Am Einstieg, zwei italienische Seilschaften vor uns, wabern die Wolken. Wir greifen dankend in die dicken Taue, während ein Italiener die Tour sauber vorsteigt – kann ich gut verstehen, wäre wohl auch mein Anspruch. Wir arrangieren uns an den Ständen mit den Genuesern, wären an sich schneller, aber als Fünfer-Raupe kannst schlecht vorbeiziehen. Die Italiener telefonieren mit der Turiner Hütte, und geben Bescheid, dass es später wird mit dem Abendessen.

Die vier seilen direkt vom Vorgipfel ab, wir erweisen der Madonna am Hauptgipfel noch die Ehre. Anschließend ziehen Lenzi und ich das Snickers aus dem Rucksack – wenn’s mal wieder länger dauert.

"Headwall"
Headwall

Im Abseilen ein Graupelschauer, Wolken, Nebel, echtes Nordwandfeeling für Lenzi. Mit Steigeisen den Zustieg hinunter überholen wird bald die vier, die heute Morgen aus Genua anreisten und von Courmayeur mit der Seilbahn herauf kamen. Kein Wunder, dass ihnen langsam die Luft ausgeht. Am Gletscher nun nicht nachlassen und hinüber zur Hütte – immerhin wartet dort das Abendessen. 19:00 Uhr, wir haben unser Geraffel aufgeräumt, bekommen noch das Abendessen, Johannes spendiert einen Wein, die Wandergruppe bekommt ein Zimmer für sich allein, und wir handeln noch eine Dusche raus. Plan für Morgen: erstmal ausschlafen und dann schaumamal.

Entrevers Grat

Spätestes Frühstück um 7:00 Uhr – der Wecker klingelt um 6:55 Uhr, wir schauen in aufgelockerte Bewölkung. Weit weg ist der Alltag. Gemütlich frühstücken, gegen 10:00 starten wir in die immer größer werdenden Wolkenlücken zum Arrête d’Entrevers: Überschaubar kurz, die schwierigste Stelle abseilen, da wir, wie im Gantzhorn Führer beschrieben, in Nord-Süd-Richtung gehen. Nachteil: Genau auf den 50m mit der schwierigen Stelle und dem schmalsten Grat haben wir Gegenverkehr mit all den anderen (geführten) Seilschaften – bzw. sie mit uns. Aber alle Führer sind entspannt – bis auf einen, und da sind es dessen Kunden, die gut drauf sind und sich mehr oder weniger für ihren Guide entschuldigen.

Eine schöne Spur zieht zum Kuffner Grat, und abends entscheidet sich Lenzi, das am nächsten Tag anzugehen. Der Rest der Wandergruppe steht hinter ihm und ist überzeugt, dass er das „draufhat“.

Kuffnergrat oder die Einsamkeit am Mèr de Glace

Kurz nach 4:00 Uhr steheh wir hinter einer geführten Seilschaft als zweite von etwa acht Gruppe im Cirque Maudit. Vor uns das Einstiegs-Couloir zum Kuffner Grat. Die Bedingungen perfekt: Trotz recht milder Temperaturen „bon regel“ des Schnees – er trägt und lässt sich gemütlich gehen; eine schöne Spur im Couloir, das sich, zuerst dunkel und steil vor uns stehend, doch zurück legt, und dessen Bergschrund leicht zu überklettern ist. Darüber eine schöne Spur, der Grat laut Berichten eh gut beinander, hinter dem Dent du Geant kündigt sich zart die Dämmerung an. Weiter oben Stirnlampen von drei, vier Seilschaften, die im Licht des recht vollen Mondes unterwegs sind. Alles perfekt. So erfahre ich das.

Zarte Dämmerung

Für Lenzi stehen wir im schwarz-dunklen Cirque Maudit. Umgeben von steilem Fels und Eis, ist das einzig Sichtbare der Lichtkegel seiner Stirnlampe. Vor uns zieht das Couloir steil nach oben und verliert sich im Schwarz der Nacht. Die Anstrengung der letzten Tage zeigt Spuren. Er sieht die Tiefe beim Queren der Firnflanken vor sich, dazu Anstrengung und Gelände dem er sich nicht gewachsen fühlt. Am Bergschrund ist klar: Der Schalter vom Dent du Geant lässt sich heute nicht umlegen, keine Chance. Wir haben keine Zeit für Diskussionen, die Option Umdrehen hatte ich sowieso offen gehalten. Ich gebe Kathi Bescheid, dass wir raus sind, und über das Mèr de Glace zurück zur Midi gehen. Viel Spaß, passt’s auf und bis nachher.

Einsam über das Mèr de Glace

Den aufsteigenden Gruppen entgegen steigen wir hinunter auf den flachen Gletscher. Ich kenne Lenzi’s Ängste, kann ihn verstehen. Und doch macht sich nun, unten sitzend und beim Anziehen der Daunenjacke den Tag beim Erwachen zusehend, die Enttäuschung breit. Die hellen Punkte der Lampen werden schnell kleiner, wie erwartet scheinen die Bedingungen perfekt zu sein. Mir wird immer klarer, dass gerade eben eine große Chance den Kuffner Grat zu gehen, aus den Händen glitt. Mir wird es nicht leicht fallen zu akzeptieren, dass ich die Entscheidung für Lenzi, den Kuffner auszulassen, gestern hätte treffen müssen. Es gab die Alternative, dass er mit der Bahn nach Italien runter, und mit dem Bus nach Chamonix fährt. So hätte ich den Kuffner klettern können und Lenzi hätte sich die schwere Entscheidung erspart. Ganz allein mein Fehler, woher soll er die Erfahrung für die Entscheidung haben. Andererseits: Was, wenn er den Schalter wieder gefunden hätte? Ich bin mir sicher, dass er mit dem Gelände zurecht gekommen wäre…
Bis ich das so akzeptieren kann, wird es bis zum nächsten Tag dauern. Erstmal steigen wir hinunter zum Mèr de Glace, begegnen nur unterm Cappucin zwei Bergsteigern, sind ansonsten weit und breit alleine. Die Steigeisen knirschen im Schnee, sonst ist es still um uns. Das Morgengrauen macht dem Morgenrot Platz, der Tacul leuchtet im ersten Licht über uns, wir stehen unter dem Schneekegel, der hinauf zum Supercouloir führt. Das Couloir, in dessen Zustieg am Cervasutti Pfeiler 2007 mein Unfall passierte. Eine Linie, die, so offensichtlich, so gerade und lang, einfach geklettert werden will. Wir stehen eine Zeit, schauen, ich denke und erzähle, das Fotografieren fällt mir nicht ein, dann stapfen wir wortlos weiter. Der Felssturz ist bereits gefallen, die Tränen liefen schon gestern. Wer weiß, wozu es letztlich gut war.
Und mit einigen Tagen Abstand war der Verlauf des Morgens so für uns wohl auch der Bessere.

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